Theatertipps: Schauspiel Essen
- DAS FEST
- EIN BERICHT FÜR EINE AKADEMIE - Franz Kafka in der Bearbeitung von Zafer Tursun
- FRÜCHTE DES ZORNS
- BUNBURY - ERNST IST DAS LEBEN
- GIFT. EINE EHEGESCHICHTE
- WER HAT ANGST VOR VIRGINIA WOOLF?
- EIN GROSSER AUFBRUCH
- CASH - UND EWIG RAUSCHEN DIE GELDER
- DER BESUCH DER ALTEN DAME
- LEBEN DES GALILEI
- MARIA STUART
- DER GUTE MENSCH VON SEZUAN
- FRANKENSTEIN
- KUNST
- ICH HABE NICHTS ZU VERBERGEN - MEIN LEBEN MIT BIG DATA
- DAS BESTE ALLER MÖGLICHEN LEBEN
- MY FAIR LADY
- CASPAR HAUSER
DAS FEST
29.09.2022 | Der Film von Thomas Vinterberg eroberte 1998 die Kinoleinwände und erhielt zahlreiche Preise. Kurz danach wurde die Handlung von Bo hr. Hansen für die Bühne bearbeitet. Im Schauspiel Dortmund lief eine spannende Inszenierung.
Eher leicht-lustig wurde von Regisseur Karsten Dahlem die Geschichte im Essener Schauspiel in der Ausstattung von Claudia Kalinski erzählt, zu der auch die Musik vom Geysir-Quartett beitrug.
Philipp Noack ist der älteste Sohn Christian, der seinen Vater anläßlich seines 60. Geburtstages des Mordes an seine Tochter Linda und des Kindesmissbrauchs anklagt. Kaum betroffen reagiert Jens Winterstein als Vater auf die Anschuldigen. Auch die anwesende Gesellschaft zeigt sich ungläubig distanziert. Die tote Schwester muß Christian mehrmals auffordern fortzufahren.
Mit dem hoch aktuellen Thema gelingt es der Aufführung kaum, auch beim Zuschauer Betroffenheit zu erzeugen - ein Spiegelbild vom Bühnengeschehen. Im gut besuchten Zuschauerraum dankte das Publikum mit freundlichem Beifall.
EIN BERICHT FÜR EINE AKADEMIE - Franz Kafka in der Bearbeitung von Zafer Tursun
27.8.2022 | In der 1917 von Kafka veröffentlichten Erzählung wird der Affe Rotpeter von den Mitgliedern einer Akademie eingeladen, einen Bericht über sein 'äffisches' Vorleben vorzutragen.
Die Essener Bühnenbearbeitung dieser Erzählung von Zafer Tursun ist genial und effektiv. Er verteilt den Text der Handlung auf drei Schauspieler. Ihm gelingt so eine abwechslungsreiche Sicht auf Rotpeters Erzählung, kombiniert mit drei unterschiedlichen Darstellungen und sprachlichen Verschiedenheiten.
Für die Regie von Zafer Tursun hat Marlene Lücker auf der Spielfläche in der Casa einen hellen Raum mit verschiebbaren Wänden aus Plastikplanen entwickelt. Auf einer Bank sitzen je nach Situation die Protagonisten. Ein Klavier am Rand lädt zum kurzen Spiel ein.
Rezo Tschchikwischwili, elegant in einem beigen Anzug gekleidet und ohne sonstiges 'äffisches' Äußere, richtet seine Rede an fiktive Mitglieder der Akademie über seine Menschwerdung. Es wird klar, daß er sich in einem geschlossenen Raum befindet. Zwei weiß gekleidete Männer betreuen ihn, wie Pfleger einen Kranken. Dennis Bodenbinder und Shehab Fatoum unterhalten sich über ihren Patienten offen in seiner Anwesenheit. Nahezu unbemerkt übernehmen die beiden Pfleger die Erzählung ihres Patienten, werden so Teil von ihm, während dieser interessiert deren Vortrag verfolgt. Die verschiebbaren Wänden schließen zum Schluß die beiden ein, wie die Kiste, mit der der Affe nach Hamburg in den Zoo kam.
Im Zentrum steht mit der detaillierten Schilderung das Anpassungsvermögens des Affen an die Menschen und seine Rolle die er spielt, wie man diese von ihm erwartet. Die Spannung an dem Erzählten bleibt durch die drei phantastischen Darsteller erhalten.
Das teilweise sehr junge Publikum bedankte sich bei den Schauspielern und dem Regie-Team mit kräftigen Beifall für den eindrucksvollen Anfang in die neue Spielzeit.
FRÜCHTE DES ZORNS
10.10.2021 | Nach dem Roman von John Steinbeck anno 1939 und dessen deutscher Fassung von Klaus Lamprecht entwickelte Hermann Schmidt-Rahmer seine Bühnenfassung für die Essener Grillo-Bühne.
Die Bühne von Thilo Reuter zeigt ein modern gestaltetes zweistöckiges Haus vorn an der Rampe, das später nach hinten auf die Drehscheibe gezogen wird, sich dreht, um so die die Kehrseite einer Welt zu zeigen. Die Videografie von Alexandra Costa Pinto wirft auf das Haus Farbstrukturen, Motive und Filme. Auf den Bildmonitoren im Hause sieht man das schreckliche Geschehen von Unwettern; die Personen werden bei ihrem Leben in diesem Haus gefilmt und führen dabei auch selbst die Videokamera, um über ihr Dasein zu reflektieren.
Die handelnden Personen spielen die Reise von Tom und seiner Familie durch ein wüstes Land, die auf der Suche nach einem neuen Leben mit Arbeit sind. Sie wandern still durch die Räume des hellen Hauses, sind voller Angst und treffen als Geflüchtete auf die Vorurteile derer, die sie mit ihrer angebotenen Arbeit nur ausbeuten. Die unrealistische Spielebene wird dadurch verdeutlicht, daß einige mit einem Hirschkopf nebst großem Geweih agieren; eine in der Filmsequenz gezeigte Wildkatze ist für sie Bedrohung. Der Tod ist für alle der Helden ohne Heimat präsent.
Die Sprache der neun Schauspieler wird durch Microport verstärkt, was Inhalt, Bedeutung und Sprachfarbe unterstützt und von der Qualität des Ensembles zeugt. Da muß man schon mal suchen, wer denn jetzt gerade spricht; daß war für das Verfolgen des spannenden Ablaufes kein Nachteil und unterstützte die unrealistische Spielebene.
Alexey Ekimov ist Tom und er glänzt nicht nur durch sein Spiel; es ist großartig, wenn er ob seiner Situation körperlich ausrastet. Aber besonders seine sprachliche Gestaltung für diese große Rolle war vorbildhaft; man hörte ihm immer gerne zu. Umso mehr fällt seine Kollegin mit dem `S-Fehler` auf; aber das interessiert die Leitung des Hauses nicht, denke ich noch an das Gretchen in der Faust-Aufführung vor einigen Jahren. Aber Spielen ist nicht alles.
Dank Corona blieben einige Plätze in der sonst gut besuchten Aufführung leer. Das Publikum bedankte sich zu Recht heftig bei den Schauspielern. Die außergewöhnliche Inszenierung von Hermann Schmidt-Rahmer gab genügend Anlaß, um über Stück und Aufführung nachzudenken.
BUNBURY - ERNST IST DAS LEBEN
03.10.2021 | Oscar Wildes Werk anno 1895 galt wegen seines Pointenreichtums als Dauerbrenner mit einer verwirrenden Komik auf den internationalen Bühnen. Das Thema ist natürlich die Liebe der Geschlechter, obwohl gesellschaftliche Aspekte durchaus gewollt sind. Elfriede Jelinek hat sich des Werkes angenommen und eine mit aktuellen Sprachfloskeln bespickte deutsche Fassung erarbeitet.
Es wird auf Tempo gespielt und gesprochen, was den Betrachter die Verfolgung der Handlung etwas erschwert. Daher besonders lobenswert erwähnt seien Ines Krug und Dennis Bodenbinder, denen man gerne zuhörte und -sah. Auch Sven Seeburg erfüllte seine beiden Rollen mit satirischem Spaß und sprachlicher Präzision, sowie Silvia Weiskopf als Dienstmädchen, die ein wildes Pferd in der O-Gasse zähmt.
Das Bühnenbild von Aurel Lenfert entwickelt sich immer mehr zu einem bunten Blumen-Rausch, bei dem die Personen der Handlung Teil der Botanik werden. Die Kostüme von Marie-Luise Lichtenthal unterstützen den Farbenrausch geschickt. Nach etwa einer Stunde Spieldauer verzichtete manch Theaterbesucher darauf, einen logischen Aufbau der Handlung zu suchen und fand einfach Spaß am bunten Geschehen auf der schönen Grillo-Bühne und er wunderte sich nicht, daß nach 2h15 für alle Beteiligte ein glückliches Ende nahte.
GIFT. EINE EHEGESCHICHTE
10.10.2020 | Als zweite Premiere der Spielzeit gab es in der CASA NOVA eine durchaus sehenswerte Inszenierung des international bekannten Werkes von Lot Vekemans.
Gift, das soll sich im Boden eines Friedhofes befinden und Gräber müssen daher verlegt werden. Ein Grund für ein Ehepaar, sich dort nach langer Zeit der Trennung wieder zu sehen. Im Stück heißen sie Er und Sie. Daß der Tod des Sohnes, die Vergangenheit und damit das gemeinsame Leben bis zur Trennung der beiden Eltern Thema ist, ist zwangsläufig. Zuletzt wird klar, daß das Treffen von ihr eine Finte war, um überhaupt einen Kontakt wieder herzustellen. Man kommt sich näher; einen glücklichen Neuanfang der Beziehung gibt es nicht.
Regisseurin Sophie Östrovsky mit ihrem Assistenten Zafer Tursun stehen zwei ausgezeichnete Schauspieler des Essener Ensembles zur Verfügung. Janina Sachau und Sven Seeburg zeigen ein Paar voller Emotionen und Ratlosigkeit, das sich mit ihrer verkorksten Ehe auseinandersetzt. Während bei Janina Sachau die Worte in nahezu lautlose Emotionen entgleiten, gelingt es Sven Seeburg, dank seiner ausgesprochen starken Sprachkultur, jedes Wort deutlichst vernehmbar zu gestalten.
Lena Natt gestaltete einen Bühnen-Raum, der aller bestens bespielt wurde. Wie Teile einer Schale bogen sich die Seitenwände und boten so die Gelegenheit, darauf zu liegen, herunter zu rutschen, sie schwerlich zu begehen oder einfach auf zwei Steinen oder einer Bank im Zentrum des Raums zu sitzen. Dieses Bühnenbild bot also Gelegenheit für die Regie, den notwendigen Corona-Abstand der beiden Protagonisten geschickt zu gewährleisten und immer eine spannende Personenbeziehung herzustellen.
Das Publikum im ausverkauften Theater bedankte sich nach 1h30 zu Recht mit kräftigem Applaus für eine Aufführung, die sogar etwas stärker wirkte, als die Premiere vom Vortag im großen Haus.
WER HAT ANGST VOR VIRGINIA WOOLF?
9.10.2020 | Wer kennt ihn nicht den KIassiker, zumindest in der Filmversion? Aber auch auf der Essener Schauspielbühne wurde Edward Albees Werk schon mehr als einmal aufgeführt. In der Übersetzung von Alissa und Martin Walser wurde damit in der Inszenierung von Karsten Dahlem die Spielzeit 20/21 des Essener Schauspiels eröffnet.
Dahlems Inszenierung arbeitet nicht unbedingt den sozialen Hintergrund der Handlung heraus: Ein älteres Ehepaar nutzt die berufliche Abhängigkeit eines jungen Paares aus. Vielmehr wird die seit Jahren schwelenden Beziehungskrise zwischen Martha (Ines Krug) und George (Jan Pröhl) mit oft leisen Tönen ausgekostet. Opfer ihres diesmaligen Spieles mit den Mitmenschen sind Süsse (Lene Dax) und ihr Ehemann Nick (Alexey Ekimov); ein junges Ehepaar, das das hat, war die alternden Gastgeber nicht mehr bieten können.
Süsse ist schlank und rank wirkt wie ein 'Girlie'. Nick kann auch einen Body mit knackigem Körper zeigen. Martha gelingt es, ihr Aussehen durch Kleidung, Frisur und Make-up attraktiv erscheinen zu lassen, um das Alter zu verbergen und verhehlt nicht ihr Interesse an diesem jungen Mann. Für seine berufliches Weiterkommen, ist für Nick eine kurze Beziehung zu Martha kein Problem. George mit 'schwabbelnder Plautze' als Gegenentwurf zum feschen Jüngling, wirft kaum ein Auge auf die attraktive Süsse und ist nur darauf bedacht, seine Martha den Gästen vorzuführen.
Das Bühnenbild von Inga Timm zeigt zuerst einen hellen Raum mit verschiebbaren Wänden, die sich im Laufe der Zeit öffnen. Mit dem Ausblick auf die ganze, große Theaterbühne und dem im Hintergrund immer wieder spielenden Pianisten Hajo Wiesemann am Flügel entwickelt die Ausstattung eine beeindruckende Größe.
Die Regie von Karsten Dahlem läßt kaum eine Körpernähe der Spieler untereinander zu; selbst wenn einem danach ist, ist dazwischen eine Wand. Wichtig ist ihm die sprachliche Atmosphäre, deren Melodie, die auch durch den Pianisten ergänzt wird. Schade, daß die Schauspieler auch tontechnisch verstärkt ihre Stimme einsetzen, sind sie doch durchaus in der Lage, dank ihrer Sprachkultur sich auf der Bühne zu behaupten. Aber das ist halt modern, mit Microports zu arbeiten.
Die stark und intensiv aufspielende Ines Krug als Martha ist nicht allein die Bühne beherrschende Mondäne. Jan Pröhl als George ist ihr gleichwertiger Gegenspieler.
Lene Dax findet für ihre Rolle starke Momente. Alexey Ekimov wirkt trotz seiner Hornbrille, Nick ist ja intelligent, sehr jugendlich, was er geschickt einsetzt, um bei Martha gefallen zu finden; denn ihr Vater ist schließlich sein Vorgesetzter.
Nach 2 Stunden Schlagabtausch ist das Premierenpublikum begeistert und spart nicht mit Beifall.
EIN GROSSER AUFBRUCH
23.3.2019 | Da gibt es auf der Schauspielbühne in Essen eine wirklich sehenswerte Inszenierung zu erleben. Gustav Rueb inszenierte das Werk von Magns Vattrodt, das auch verfilmt wurde. Der Bühnenraum von Peter Lehmann war leer; man sah die technische Einrichtung der Grillo-Bühne und einen Holzboden.
Es gab aus Holz helle Stühle und ein Tisch - das war's. Selbst die zu benutzende Küche fehlte; Töpfe und Geschirr standen im Hintergrund auf dem Boden. Ein Ruderboot für die letzte Reise steht bereit.
Die Aufmerksamkeit des Zuschauers wurde so nicht abgelenkt von den Schauspielern, die allesamt ausgezeichnet die Figuren der Geschichte umsetzten. Auffallend war die angenehme Sprachkultur aller Darsteller.
Jens Winterstein ist der Gastgeber Holm, der Freunde und Familie eingeladen hat, um diese von seinem bevorstehenden Tod zu informieren. Er ist mit seiner knorrigen Art eine Idealbesetzung.
Egoistisch, liebenswert und zynisch verhalten sich seine Besucher im Rückblick und Ausblick auf seinen bevorstehenden Tod. Die Gespräche miteinander schwanken zwischen Tragödie und Komödie.
Floriane Kleinpaß und Silvia Weiskopf sind Holms Töchter. Ines Krug ist die Ehefrau des Freundes Adrain (Thomas Büchel), der seine Kochkünste am Anfang unter Beweis stellt.
Mit großem Charme und Ausstrahlung verkörpert Monika Bujinski Holms geschiedene Ehefrau Ella.
Warum Jan Pröhl nicht als Florianes Freund Heiko im Besetzungsaushang genannt wird sondern jemand anders, bleibt wohl das Geheimnis der Intendanz. Vor allem Jan Pröhls Schilderung über die Wirkung des Todescocktails war ausgesprochen eindrucksvoll.
Das Publikum zeigte sich unterhaltend beeindruckt und sparte zu Recht nicht mit Beifall für eine Theateraufführung, die man auf jeden Fall ansehen sollte.
CASH - UND EWIG RAUSCHEN DIE GELDER
10.3.2019 | Slapstick-Komödie in Reinkultur präsentierte in einer rasanten Inszenierung das Schauspiel Essen im ausverkauften Grillo-Theater. Tobias Materne inszenierte im wunderschönen pastellfarbenen Bühnenbild von Till Kuhnert die Farce von Michael Cooney, die vor 19 Jahren zuletzt in der Essener Freien Theaterszene eine sehr erfolgreiche Inszenierung fand.
Stefan Diekmann ist der arbeitslose Eric Swan, der Dank krimineller Tricks die Leistungen vieler Sozialträger erschleicht. Besonders zu Beginn verlieben sich Regie und Schauspieler in tolle Gags, übertreiben es aber auch was, so wenn Eric von seiner Gicht geheilt herumhüpft.
Stefan Migge ist ein leicht tollpatschiger Norman Bassett, der aber seine Figur als unfreiwilliger Komplize mit großem Vergnügen der Zuschauer auf der Bühne realisiert. Im Frauenkostüm als Erics Ehefrau stiehlt er Ines Krug als Mrs. Cowper die Schau, als diese von Eric gerade 'belästigt' wurde.
Sven Seeburg ist der mitleidenswerte Onkel George, der, durch eine Tür verletzt, als vermeintlich Toter viele Slapstick-Momente durchstehen muß, bis er sich, auf einer Bahre geschnallt, vor dem Bestatter retten kann.
So passiert in der 90-minütigen Aufführung ohne Pause sehr viel in rasendem Tempo, zu viel, daß alle Schauspieler in einem eigenen Rollenprofil auffallen konnten. Da dominiert doch zu oft die szenische Aktion und gibt dem Schauspieler kaum Raum zur Entfaltung. Das Bühnenbild mit seinen vielen Ebenen und Türen, durch die Leute verschwinden oder eingeschlossen werden, hilft allen beim turbulenten Treiben.
Die Zuschauer hatten aber genauso wie die 10 Mitwirkenden ihren Spaß an der immer mehr verwirrenden Handlung um Personen, die es geben mußte, damit der Sozialbetrug nicht auffällt. Natürlich gibt es ein 'happy end' und so konnten alle Theaterbesucher mit einem Lächeln nach Hause gehen.
DER BESUCH DER ALTEN DAME
4.2.2018 | Die Besucher der Aufführungen des 'Schauspiel Essen' wurden befragt, mit welchem Stück die Spielzeit 2017/18 eröffnet werden sollte. Friedrich Dürrenmatts Werk ist wohl eines seiner bekannteste Stücke und wurde gewünscht. Alle bisher im Grillo-Haus gezeigten Aufführungen waren so gut wie ausverkauft; da 'ging die Rechnung auf'.
Ob die Besucher von der Realisierung angetan waren, darf auf Grund einiger betretener Gesichter und vorzeitig Abwesender angezweifelt werden. Viele jugendliche Besucher jubelten den Schauspielern zu. Die Inszenierung von Thomas Krupa war nicht realistisch gradlinig angelegt; einige Striche fielen auf. Ich kann mich nicht daran gewöhnen, daß Schauspieler über Mikrophon verstärkt auf der Bühne sprechen, wurde doch ein Großteil ihrer Ausbildung mit dem Umgang der Sprache gewidmet. Um ja jeden realistischen Anspruch zu vermeiden, baute Thilo Reuther auf der Drehbühne bis in den Saal hinein einen phantasievollen Raum mit Neon-Licht, Rolltreppe für den Bahnhof und Innenräumen, die durch schlichte Rolltore abgetrennt wurden. Der Raum besaß dadurch eine eindrucksvolle Tiefe. Die Musik von Hannes Strobel sorgt neben der Optik für eine phantasievolle, fast ferne Welt.
Daß zu Beginn es den Leuten in Güllen nicht gut geht, sieht man an allem. Man kann sich keinen Frisör leisten und Papier liegt haufenweise rum, die Stadt verfällt. Als man dann auf den Reichtum hofft, kann man sich einen Frisör und neue Kleidung leisten, natürlich auf Pump.
Claire Zachanassian (Ines Krug) kommt jugendlich elegant im hellen Hosenanzug und farbiger Perücke in die Stadt und wirk alles andere als alt. Ihre Begleitung Boby und Roby sind da doch viel zerbrechlicher. Ines Krug beherrscht durch Stimme und Spiel die Bühne.
Die Güllener Männer der Gesellschaft sind ihre Gesprächspartner, allen voran der Grund ihrer Wiederkehr: Alfred Ill. Sehr erfreulich, wie Sven Seeburg ohne später weinerlich zu werden, Claires ehemaligen Liebaber darstellt; schön, ihn in einer dominanten Rolle zu erleben. Der Bürgermeister von Axel Holst fällt da auch auf und er beweist seine herausragende Stellung in einem doch starken Essener Ensemble; schade, daß er nur noch als Gast zur Verfügung steht.
Leider bekommen die beiden weiblichen Figuren, Ills Ehefrau (Janina Sachau) und Tochter (Denise Matthey) in der Inszenierung von Thomas Krupa wenig Anteil am makabren Geschehen. Der Mord der Gemeinschaft an Ill wird eindrucksvoll von allen in Szene gesetzt.
LEBEN DES GALILEI
9.7.2017 | Zu Ende der Spielzeit 16|17 gibt es auf der Essener Grillo-Bühne noch einen absoluten Höhepunkt zu sehen. Konstanze Lauterbach erarbeitete mit 12!!! Mitgliedern des Essener Schauspielensembles Bert Brechts Schauspiel so unterhaltsam und spannend, daß es eine Augen- und Ohrenweide ist, den Handelnden zu folgen. Es wird nicht nur eine Rolle 'heruntergespielt'; vielmehr verstehen es die Schauspieler, Typisierungen der einzelnen Rollen exzellent herzustellen.
Die Bühne von Ann Heine, die schräge Fläche wirkt wie eine offene Schale, erlaubt es den Mimen zu rutschen, zu klettern, sich nicht einfach von Ort zu Ort zu bewegen. Eine realistische Ortsbestimmung ist nur durch wenige Requisiten möglich; der fehlende optische Realismus ist gut so. Die stilisierten Kostüme von Claudia Charlotte Burchard sind ebenfalls eine Augenweide. Eingespielte Musik von Verdi, Puccini? und Eisler läßt eine Zeitbestimmung für die im 17.Jahrhunderts spielende Geschichte ebenfalls nicht zu. So wird mit Text, Spiel und Handlung ein aktueller Zeitbezug hergestellt. BB würde es freuen.
Axel Holst ist Galilei, ein herausragender Leistungsträger unter seinen hervorragenden Kollegen|innen; er stellt die Entwicklung eines jungen, agilen Wissenschaftlers her, der um seine Sache willen auch kämpft. Der scheinbar resignierende Schluß mit Alexey Ekimov als ehemaliger Schüler Andrea ist ein Höhepunkt der Aufführung.
Jan Pröhl, Thomas Büchel und Jens Winterstein fallen durch Präsenz, Spielfreude und Wandlungsfähigkeit auf und sind ein weiterer positiver Effekt der zu gestaltenden Rollen. Philipp Noack ist Galileis Schüler und der junge Mönch und ergänzt mit Stefan Migge als Virginias Verlobter das starke Ensemble.
Stephanie Schönfeld ist Virginia und versteht es, die Entwicklung von dem jungen Mädchen zur erwachsenen Frau beeindruckend darzustellen. Ines Krug als ihre Mutter Frau Sarti ist immer präsent.
Was vor allem in dieser Aufführung auffällt ist die exzellente Sprechtechnik aller Schauspieler. Selbst Rezo T. verstand es, seinen Text pointiert zu setzen. Denkt man an die unsägliche Sprachbehandlung in der Maria- Stuart-Inszenierung durch E-Technik, war man richtig verwundert, daß das Essener Ensemble noch in der Lage ist, anständig zu sprechen und dann noch sehr gut.
Die Theaterbesucher im Grillo kommen zu Hauf in die Aufführung und bedanken sich mit kräftigen, lang anhaltendem Beifall, um eine der besten Inszenierungen in der jetzigen Zeit zu erleben. Auch Brecht kann daneben gehe, in Essen aber ist es genau das Gegenteil. Diese Produktion wird in die nächste Spielzeit 17|18 übernommen und das ist gut so.
MARIA STUART
Am 25.6.2016 schien Schillers Trauerspiel um die Königin Elisabeth I.
und der Königin von Schottland Maria Stuart besonders aktuell zu sein
für die Premiere im Essener Schauspiel. Gott sei es gedankt, kam niemand
auf die Idee Brexit und die aktuelle politische Situation auf der Insel
für diese Neuinszenierung zu nutzen. Das Vorhaben des Regie-Teams,
der Schillerschen Vorlage das Trauerspiel auszutreiben, reichte schon.
Regisseurin Anna Bergmann zeichnete für die Inszenierung verantwortlich.
Forian Etti baute ihr auf der Drehscheibe zwei große Wände, eine mit
vier Durchlässen, eins mit großem Durchblick. Nicht nur mit der Scheibe,
sondern auch darauf veränderten -durch unsichtbare Hände der Technik-
die beiden großen bespielbaren Flächen ihre Position und boten dem
Zuschauer immer neue optische Einblicke und dem Schauspieler variable
Spielmöglichkeiten. Schwarzer glänzender Lack beherrschte die Bühne,
die Dank der Lichttechnik von Michael Hälker wunderbar stimmig
ausgeleuchtet war. Im Hintergrund wirkte eine große kreisrunde Scheibe
auf schwarzem Grund, wo später das grausame Finale auf einer Leinwand
stattfand.
Heiko Schnurpel lieferte unter dem Titel Sounddesign modern wirkende
Musik und eben Sound, was wohl alle dazu brachte, auch die Sprache der
Protagonisten unaufdringlich leicht tontechnisch zu verstärken. Ganz
selten hatte man das Gefühl, das die Schauspieler ohne Zusatzerstärkung
auskamen. Alles mit dem Ziel, einen aktuellen 'modernen'
Inszenierungsstil zu bieten. Das gesprochene Wort trat so in den
Hintergrund.
Da fing bei mir das Problem dieser Aufführung an. Wieso konnte man sich
nicht auf die Sprechtechnik der sechs Schauspieler verlassen? Die
Besetzung war hochkarätig. Stephanie Schönfeld ist Elisabeth und
dominierte durch ihr Spiel und Dank der Rolle das Geschehen. Janina
Sachau als Titelfigur war ihr ebenbürtig, aber war trotz häufiger
Bühnenpräsenz nur zweite.
Umgeben waren beide von einem starken Männerensemble mit Axel Holst,
Thomas Meczele, Philipp Noack und Jens Winterstein. Alle hatten ihren
großen Anteil an der Aufführung. Die Personenführung war immer stimmig
und erklärend für Auge und Ohr auch Dank des flexiblen Bühnenortes.
Je länger der zweistündige Abend ohne Pause dauerte, umso mehr fehlte
mir die Präsenz der Sprache; sie stand nicht im Mittelpunkt dieser
Aufführung, sie erklärte kaum und trieb die Handlung nicht nach vorn;
da fehlte einfach die Spannung. Das lag nicht an den Fähigkeiten der
Schauspieler. Bühnenwirksame Bildveränderungen und leider die
sprachtechnische Behandlung durch den Ton lenkten von der Macht des
Wortes und der Geschichte unnötig ab und nahmen viel von der Vorlage
von Friedrich Schiller.
Unangenehmer Höhepunkt war die Ermordung der Maria Stuart, die in dieser
Essener Aufführung eigentlich als 'nicht jugendfrei' eingestuft werden
sollte. Ein Film auf der hinteren Leinwand vermittelte den Eindruck
einer grausamen Folter mit Todesfolge. Da mochte selbst ich nicht
hinschauen.
Kräftiger, aber nicht tosender Beifall honorierte die Leistung aller.
DER GUTE MENSCH VON SEZUAN
Brechts Parabel über die Schizophrenie des Menschen im 'kapitalistischen Alltag'
wurde in der Neuinszenierung des Essener Schauspiels auf die heutige
Zeit überprüft. Und siehe da - die Inszenierung von Moritz Peters
machte auf erschreckende Weise das 'Heute' deutlich. Die Textwächter
des Suhrkamp-Verlages haben mit Sicherheit die Aufführung
'abgenommen' - doch gelang es dem Regisseur in dem Bühnenbild von
Lisa Maria Rohde, zeitliche Akzente zu setzen, ohne am Text zu korrigieren.
Shen Te -wunderbar eindrucksvoll Stephanie Schönfeld- wohnt in einem
engen Container. Auf der Bühne regnet es 'in echt' nahezu pausenlos und
macht so das trostlose Leben der Gesellschaft eindrucksvoll deutlich,
den Job des Wasserträgers sinnlos. Die Mitbürger, die die Gutherzigkeit
der Shen Te ausnutzen und ihr Haus aus Not "besetzen", geben gleich
einen Bezug zur Gegenwart. Philipp Noack ist der Flieger, der ihr
Wechselspiel zwischen dem skrupellosen Vetter und der gutmütigen
Prostituierten auf sehr persönlicher Ebene erleiden muß.
Vor allem sind alle Schauspieler in den verschiedenen Rollen sehr
präsent. Sven Seeburg als Wasserträger kann beeindruckend aufspielen.
Die drei Götter sind Ines Krug, Thomas Meczele und Thomas Anzenhofer,
die auf der Videoleinwand im Hintergrund projiziert werden; Floriane
Kleinpaß ergänzt eindrucksvoll das Team. Eine großartige -auch
sprachliche- Leistung des Essener Schauspielensembles, vor allem wenn
man bedenkt, daß der Dauerregen für sie eine physische Belastung ist.
Man konnte Mitleid mit ihnen bekommen und der Zuschauer war froh, wenn
er sich etwas Warmes angezogen hatte; denn die Feuchtigkeit schlich
sich von der Bühne in den Zuschauerraum ein.
Die Zuschauer honorierten in der Premiere am 29.4.2016 die Leistung
aller mit kräftigem Beifall: eine sehenswerte Leistung im Schauspielhaus
Essen. Das sollte man sich nicht entgehen lassen.
FRANKENSTEIN
Zur Spielzeiteröffnung 2015/16 gab es im Grillo-Theater als
Deutschsprachige Erstaufführung "Frankenstein" von Nick Dear.
Die Inszenierung von Gustav Rueb erzählt die Geschichte von
Frankenstein und seinem Geschöpf in atemberaubenden Bildern.
Die Bühne von Daniel Roskamp zeigte auf der Drehscheibe eine große
Wand mit großen rechteckigen Kästen und deren Rückseite. Daraus
fällt das erste produzierte Wesen. Viel Atmosphäre wurde mit Licht
und Nebel erzeugt. Warum aber tatsächlich weitere nackte Figuren
dort bewegungslos liegen durften, wurde auch nach dem Ende der
sehr sehenswerten Aufführung nicht klar. Diese Besetzung war wohl
eher in der Vorbereitung für die Presse eine PR-Idee, als
inszenatorisch notwendig; das hätten durchaus Produkte des Malersaals
mit seiner Kaschierabteilung sein können.
Nicht nackt aber nahezu war das von Frankenstein produzierte Wesen.
Für Axel Holst ist das eine Paraderolle, die er sprachlich und
körperlich in atemberaubender Weise umsetzt. Thomas Meczele ist sein
Schöpfer, der vor allem im zweiten Teil seinen großen Anteil an der
Aufführung gestalten konnte. Sein Koflikt, er will sein
Lieblingsprojekt wieder loswerden.
Das Wesen entflieht und wird von dem Blinden de Lacy aufgezogen.
Jetzt kann das Wesen seine Wünsche artikulieren, merkt aber schnell,
daß es von der Umwelt nur durch sein Aussehen nicht akzeptiert wird.
Es wird zum Mörder. Jens Winterstein ist auch durch seine
Sprachkultur ein grandioser de Lacy. Als Frankensteins Vater ist er
dann weiter auf der Szene.
Lebens-Partnerin für Frankenstein soll Elizabeth werden, die die
zuverlässige Siliva Weiskopf eindrucksvoll darstellt. Wieder zurück,
fordert das Wesen von Frankenstein für sich eine Partnerin. So wird
im fernen England von Frankenstein diese Partnerin hergestellt.
Für einen kurzen Auftritt darf auch Silvia Weiskopf dieses Wesen
darstellen, ehe der verzweifelte Frankenstein es wieder zerstört,
hat es doch so viel Ähnlichkeit mit seiner Frau.
Der große Konflikt zwischen Schöpfer und Wesen scheint beide zu
zerbrechen. Sie wollen sich zerstören, können aber nicht existieren
ohne den anderen. Der Schluß bleibt in dieser eindrucksvollen
Aufführung offen.
Der Schlußbeifall in der von mir am 6.11.15 besuchten Aufführung
war riesig; viele junge Theaterbesucher freuten sich zurecht über
den eindrucksvollen Abend. Eine Inszenierung, die eine Bereichung
in dem manchmal sehr zeitaktuellen Spielplan darstellt.
KUNST
Die Autorin Yasmina Reza hat sich mit diesem Stück sofort in die erste
Liga vielgespielter Dramatiker geschrieben. Schon kurz nach dem
Erscheinen ihres "Kunstwerkes" stand es auf der Bühne des Essener
Grillo-Theaters. Damals vom Hausherrn Jürgen Bosse erfolgreich,
routiniert und abgeklärt auf die Bühne des Schauspielhauses gebracht,
mußte sich der damalige Hausherr Bosse zur jetzigen Grillo-Premiere
bemühen, im ausverkauften Haus einen Platz auf dem Rang zu ergattern.
Nach zwei Essener Regiearbeiten im Bereich des Kinder- und
Jugendtheaters, bewies sich nun Anne Spaeter erneut als Regisseurin und
ließ das Stück im flotten Tempo ablaufen; vielleicht manchmal etwas zu
flott, gab es doch häufig Situationen, bei denen Ruhe für die
Erkenntnis der tieferen Bedeutung dieses "Freundschaftsstückes"
hilfreich wäre. So, wenn Yvan über seine Ruhe philosophiert, die er
scheinbar verloren hat. So ließen auch die Tempi etwas an der
Textverständlichkeit der drei Protagonisten nagen. Für das 'kleine'
Stück um das weiße Bild gab es auf der Vorderbühne ein abstraktes
Bühnenbild von Fabian Lüdecke; Dank einer Scheibe drehten sich die
weißen Qudader und Gerüste und ermöglichten schnell neue Spielorte, die
vielleicht für dieses Stück gar nicht notwendig waren. Erst als zuletzt
nur die Ansicht mit großem 'Tisch' bespielt wurde, kehrte auch für's
Auge des Zuschauers Ruhe ein. Vor allem zu Beginn zeigte die
Regisseurin neben den Ortswechseln einen inszenatorischen Gag nach dem
nächsten, um dem Publikum zu zeigen, das ist hier eine Komödie.
Das hätte sie vielleicht gar nicht gebraucht, hätte sie sich auf die
drei fabelhaften Schauspieler verlassen und ihnen Gelegenheit zum
ausspielen des Wortes gegeben. Thomas Büchel ist Serge, der Kunstfreund
- oder ist er Banause, der mit seinem Bildkauf -weiß auf weiß- seine
Freunde in Bedrängnis bringt, sollen sie sich doch dazu äußern. Jan
Pöhl als Marc bringt das mit seiner direkten Art gleich auf den Punkt,
das ist Scheiße. So wird die 15-jährige Freundschaft schnell auf die
Probe gestellt. Der dritte im Bunde Yvan soll zwar vermitteln, hat aber
mit seiner bevorstehenden Hochzeit genug andere Probleme; vielleicht
wirkt Gregor Henze mit dieser Rolle doch etwas zu jung, sollten sich
doch alle drei Freunde in einer 'Midlifecrisis' befinden und auf eine
schon lange Bekanntschaft mit deren Höhen und Tiefen zurückblicken.
Dem Publikum gefiel's, es lachte viel und geizte nicht zu unrecht mit
lang anhaltendem Beifall. Etwas opulent viel der erste 'schwarze
Vorhang' aus, zeigten sich zu den drei Darstellern gleich fünf vom
Leitungsteam.
ICH HABE NICHTS ZU VERBERGEN -MEIN LEBEN MIT BIG DATA
(Ein Projekt von Hermann Schmidt-Rahmer)
Und am 3.10.2015 gab's im Essener Schauspiel wieder eine Uraufführung,
diesmal im Grillo-Theater. Bereits für die vorige Spielzeit vorgesehen,
ist das Thema immer noch höchst aktuell. Die technologische Welt
beeinflußt und überwacht unser Leben, suggeriert uns, daß wir das
brauchen, daß es gut ist, daß es uns Spaß macht...
In einer sehr einfach gehaltenen -amerikanischen- Familie wächst
bereits als Monster-Baby Big Data (Jan Pröhl) auf und beherrscht dort
das Leben. Der vollbeleibte Vater (Daniel Christensen) und seine leicht
schlampigen Ehefrau (Ines Krug) bekommen ihre Tochter (Lisa Henrici),
der bereits ihre Hosen zu eng werden, nicht mehr in den Griff. Sie
hängt nur noch am Smart-Phone und ist von ihm abhänging. Raphaela Möst
ist der personifizierte Einfluß dieser technischen Errungenschaft auf
das junge Mädchen und zeigt, welche Vorteile die Nutzung mit ihr hat;
sie wird zu ihrer wahre Freundin und gewinnt so Einfluß auf die gesamte
Persönlichkeit.
Big Data entwächst schnell dem Elternhaus und macht in der Überwachungswelt seinen Weg. Der Vater kämpft zu spät dagegen an.
In einer Interaktion mit dem Theaterpublikum wird anschaulich
verdeutlicht, wie die Video-Technik nach dem Scannen eines
Theaterbesuchers dessen Verhalten analysiert, um so Rückschlüsse auf
Aktivitäten und finanzielle Aspekte zu bekommen.
Die Grenzen von wissenschaftlicher und futuristischer Dokumentation
sind auf der Bühne fließend und ermöglichen eine meist kurzweilige
Szenenfolge, die eins auf jeden Fall dem auch teilweise sehr jungen
Zuschauern zeigt: habt Acht.
Die Schauspieler sind engagiert bei der Sache und machen die Uraufführung zu einem aktuellen Ereignis.
DAS BESTE ALLER MÖGLICHEN LEBEN
Noah Haidle
Einen besseren Start konnte sich das Schauspiel Essen in die neue
Spielzeit gar nicht wünschen. In der Casa gab es am 2.10.15 eine
Uraufführung. Regie führte Thomas Krupa, der auch sein wunderbar
ausgeleuchtetes Bühnenbild entwarf, was dezent künstlich wirkte -
ebenso Kostüme und Maske von Johanna Denzel. Leicht glänzende Lackfolie
auf den Flächen mit einer zu kleinen Tür für die Auftritte, in
Brauntönen ausgeleuchtet. Der so aufgebaute Guckkasten in der Raumbühne
der Casa wirkte leicht verloren; die Decke senkte sich, je älter das
Kleinkind wurde. Es wird so für die Eltern zur Enge, zur Bedrohung, ehe
die Decke das Ende für das erwachsene Kind wird. Es gibt keine
unnötigen Requisiten und dergleichen; ein sehr stimmiger Raum, der
nicht von der Leistung der drei Protagonisten ablenkte.
Und die drei Schauspieler geben ihr Bestes, von dem sie viel haben. Das
Kind ist Stefan Diekmann, welches seine neuen Eltern noch im Korb
vorfinden. In kürzester Zeit wächst der Junge, was eindrucksvoll von
ihm gestaltet wird, ergänzt durch das Senken der Decke und
Tonfrequenzen. Ein ganzes Leben wird vorgeführt. Der Junge fragt, lernt
das Leben, ist in der Pubertät, stellt Wünsche und Ansprüche, spielt
früh Klavier und vergewaltigt Mutter und Vater. Der Junge wird so
akzeptiert, lebt sein Leben und verrät vor seinem Tod seinen Eltern,
daß sie endlich ein Kind erwarten, aber nicht von ihm.
Die Eltern werden durch ihr Kind in ihren Stärken vor allem aber
Schwachen vorgeführt und sie lernen von ihrem Findelkind, dem sie den
Namen Christoph geben. Stephanie Schönfeld ist die junge Mutter und
beweist mit ihrer Darstellung das hohe Niveau des Essener Schauspiels.
Eine mehr als angenehme Überraschung auf der Bühne ist Marcus Staab als
schnöseliger Vater. Wie er seine Rolle mit großem körperlichen Einsatz
gestaltet ist höchsten Lobes wert. Schön wäre es, ihn in weiteren
Rollen in Essen zu erleben.
Das Publikum war nach 100 Minuten begeistert und sparte zu Recht nicht
mit Applaus, nahm man doch an der Geburt eines wirklich guten Werkes
teil. Dieses Stück wird nach seiner Essener Uraufführung seinen Weg
über die Theater-Bühnen machen.
MY FAIR LADY
Das ist schon eine hochinteressante und ansehenswerte Neuinszenierung
im Essener Grillo-Theater, die am 5.12.2015 sehr erfolgreiche Premiere
feierte. Besonders bekannt aus dem Kino gab es 'My Fair Lady' in der
Schauspiel-Fassung und Regie von Robert Gerloff; Carola Hannusch war
für die Dramaturgie verantwortlich.
Schon der Einstieg mit dem stimmungsvollen Bühnenbild von Maximilian
Lindner von Londons Covent Garden war großartig; da brauchte man keinen
Regen, vor denen die Schauspieler an der Wand Schutz suchten.
Videoeinspielungen von Heta Multanen auf Werbeflächen ergänzten die
Optik des Bühnenraums und erklärten immer wieder auch in anderen Szenen
ergänzend die Situation. Dank der Drehbühne gab es schnelle
Ortswechsel; auch für das Haus Higgins gab es eine Videoleinwand.
Die Feuerstelle für die Frierenden auf der Straße war ein Requisit
aus der Vergangenheit des alten Essener Opernhauses, der letzten
Inszenierung dieses Musicals auf der damaligen Opernbühne von anno
dazumal.
Perfekt unterstützt wurde die Inszenierung Robert Gerloffs durch die
gestalteten choreographischen Einlagen von Stephan Brauer. Das war
schon beachtlich, wie die elf Schauspieler | Sänger und fünf
Orchestermitglieder sich seinen phantasievollen Ideen annahmen und
diese umsetzten. Es gab immer was zu sehen; Tanz, Bewegung auf der
Bühne oder auf der Videoleinwand; nichts wirkte aufgesetzt. Das ist
eine mehr als lobenswerte Leistung.
Und dann haben ja noch die Schauspieler gespielt was das Zeug hält.
Denn der Vorteil der Essener Neuinszenierung ist, daß man die
Shaw | Gilbert | Pasacal-Vorlage ernst nahm und deutlich interpretierte.
Anne Schirmacher ist Eliza Doolittle. Zuerst ist sie ein pralles
Straßenkind, dem sie nicht zu sehr aufgesetzten Dialekt gibt; besonders
als Dame glänzt sie mit dem gewonnen Selbstbewußtsein der ehemaligen
Blumenverkäuferin.
Ihr zur Seite konnte Jan Pröhl wunderbar kauzig den Sprachforscher
Henry Higgins entwickeln. Ihm gehört der Stückschluß, da er der Verlierer
der Geschichte ist. Eliza Doolitte verläßt ihn und macht mit Freddy
eine eigene Sprachschule auf, nicht ohne vorher Higgins ihre Meinung
über sein selbstsüchtiges Verhalten zu sagen. Das ist eine der großen
Facetten dieser Aufführung im Schauspiel, da man Zeit und Raum für den
erklärenden Schluß gibt.
Thomas Büchel ist ein schlanker Vater Doolittle, der -wie die anderen
notleidenden Slumbewohner auch- nicht wie ein Penner rum rennt. Dann
hat der Regisseur Mut und läßt den zu Geld gekommenen auf offener Bühne
an seiner Trinksucht sterben; die sogenannten Freunde kennen keine
Trauer und plündern den Toten aus.
Auch die anderen Rollen sind effektiv besetzt. Die meisten spielen
verschiedene Rollen, wie Stephan Brauer und Laura Kiehne als
Straßenkinder oder Dienstboten im Hause Higgins. Sven Seeburg versteht
es als Oberst Pickering, der Rolle Profil zu geben; auch er lässt zu
Ende Higgins vorwurfsvoll allein. Ingrid Dohmann ist eine pointiert
klare Mutter Higgins, die Eliza unterstützt.
Musikalisch lag alles in den bewährten Piano-Händen von Hajo Wiesemann,
der mit seinen Musikanten -Streicher, Gitarre, Klarinette- den
musikalischen Teppich gab. Da spielte es auch keine Rolle, ob die
singenden Schauspieler immer den richtigen Ton trafen. Da sang auch
schon mal das Orchester mit.
Zu wünschen bleibt dieser Musical-Produktion mit Schauspielern, daß
das Publikum diese Qualität der Aufführung 'mit den Füßen' unterstützt
und "My Fair Lady" von Frederick Loewe die nächste Spielzeit weiterhin
auf dem Spielplan steht. Das ist nicht nur dem Kassenwart des Hauses,
sondern vor allem allen toll auftrumpfenden Mitwirkenden zu wünschen.
CASPAR HAUSER
Da mußte ich nach der Essener Premiere am 4.12.2015 in der Casa-Nova
doch in meinen Erinnerungen kramen: In seiner Kritik schrieb damals
Hans Jansen am 8.3.72 über die Essener Premiere, wie sie "mit Ovationen
gefeiert wurde". Im Essener ehrwürdigen Opernhaus gab es damals Andreas
Gerstenbergs Inszenierung von Peter Handkes "Kaspar". Vergleichbares
sah der Rezensent hierzulande noch nicht.
Gleich vier Kaspar-Darsteller standen auf der Grillo-Bühne; es wurde
vor dem Eisernen gespielt. Die beiden Fernsehapparate stellte die Firma
Jasper freundlicher Weise zur Verfügung. Die Gebührenkarte für
Mitglieder des Hauses kostete damals 0,80 DM. Das waren Zeiten. Diese
Aufführung löste nicht nur Riesen-Beifall, sondern auch böse Ablehnung
der Abonnementen aus, so daß der Kaspar nur 'im freien Verkauf', vor
allem vormittags 'lief'. Das jugendliche und theaterinteressierte
Publikum kam und sah dieses Schauspiel-Spektakel.
Dieses Schicksal wird die Inszenierung nach der Konzeption von
polasek&grau in der Casa erspart bleiben. Jana Milena Polasek führte
Regie, den Bühnenraum entwarf Stefanie Grau; Vorlage für beide war der
Roman von Jakob Wassermann. Im dunkelgrauem Raum der Casabühne, es
wurde außer einem runden Wasserbecken kaum etwas hinzugebaut, was
wieder den Ausstattungsetat entlastete, spielte sich das Geschehen um
das "Findelkind" Caspar Hauser ab.
Silvia Weiskopf spielte den 16-jährigen Jungen zum erwachsen werdenden
Mann Caspar mit einer beachtlichen Intensität. Mitglieder der
Gesellschaft sind Ines Krug, Stefan Diekmann und Jens Winterstein,
weitere 'starke Säulen des Essener Ensembles'. Das "Findelkind" lernt
sprechen, wird bestens erzogen und von einer Familie zur anderen aus
Interesse an den vermuteten Hintergründen gereicht. Die persönlichen
Interessen Caspars nach seiner Herkunft interessieren da nicht; man
ist gierig nach seinem Tagebuch, welches die Geheimnisse von Caspar
Hauser preisgeben könnte. Es bleibt nicht aus, Caspar wird ermordet.
Die Regie erzählt diese Geschichte gradlinig. Die vier Schauspieler
spielen das wirklich prima. Es gab freundlichen Beifall; doch geht man
mit einem "warum" nach Hause.
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